5-Punkte-Plan gegen Antiziganismus: Berlin muss Diskriminierung von Sinti und Roma beenden
In der Friedrichshainer Straße der Pariser Kommune ist es am 18. Juni 2018 zu massiver Gewalt gegen ein dort lebendes Roma-Mädchen gekommen. Wie verschiedene Medien berichteten, schoss ein Anwohner von seinem Balkon aus auf das Kind. Die Zunahme von Kindergeldempfänger*innen im Ausland wird Ruckzuck mit der These von Sozialmissbrauch durch „eingeschleppte“ Roma verbunden. Der Roma-Jugendverband Amaro Foro und viele andere fordern immer wieder: Antiziganismus muss ernst genommen werden. Denn Sinti und Roma sind besonders oft von Diskriminierung betroffen: auf dem Wohnungsmarkt, bei der Arbeit, in Schule und Kita und auf Ämtern.
Die Berliner Registerstelle für Antiziganismus hat für das vergangene Jahr erneut einen Anstieg gemeldeter Vorfälle dokumentiert. Demnach wurden 2017 252 antiziganistische und diskriminierende Vorfälle in Berlin erfasst. Darunter sind 167 gemeldete Vorfälle und 51 diskriminierende Medienberichte, außerdem 34 Beiträge aus sozialen Medien. Darüber hinaus wurden über 1000 Äußerungen in Kommentarspalten unter Medienberichten ausgewertet, von denen etwa 80 Prozent als rassistisch und sozialchauvinistisch einzustufen sind. Bei den gemeldeten Vorfällen ergibt sich im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von etwa 14 Prozent.
Woher kommt dieser Anstieg? Jeder Dritte Deutsche findet Roma und Sinti als Nachbarn sehr unangenehm. 50 Prozent glauben, dass Roma und Sinti die Feindseligkeiten gegen sich selbst verschulden und wollen Einreisebeschränkungen vor Roma und Sinti, auch wenn das für Bürger*innen der EU rechtlich unmöglich ist. Das ist das Ergebnis einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2014. Seit dem hat sich die Situation der Sinti und Roma weiter verschlechtert. Die Bundesrepublik Deutschland und Berlin als Hauptstadt haben den Roma gegenüber eine besondere historische Verantwortung . Deutschland muss sich innerhalb der EU dafür einsetzen, dass Freizügigkeit und soziale Standards – auch und gerade für Minderheiten – nicht unter die Räder geraten.
Als Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus fordern wir daher die Diskriminierung von Sinti und Roma in Berlin stärker zu bekämpfen. Nur eine aktive Politik gegen Antiziganismus schafft die Basis, um Diskriminierung in allen Lebensbereichen zu stoppen. Dazu machen wir folgende Vorschläge:
1. Diskriminierung in der Schule: Schimpfwort Zigeuner nicht dulden!
Ein großes Problem sind die Schulen und Kitas: Antiziganismus wird hier bisher nicht einmal systematisch erfasst. Das geht aus der Antwort von Staatssekretär Mark Rackles (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie) auf die schriftliche Anfrage Antiziganismus in Kitas und an Schulen hervor. Vor diesem Hintergrund fordern wir, dass Berlin seine Schülerinnen und Schüler aus Sinti- und Romafamilien besser vor Diskriminierung schützt. Dazu müssen die Beschwerdestrukturen in den Schulen ausgebaut und Lehrkräfte stärker sensibilisiert werden. Um es deutlich zu sagen: Berlin darf nicht tolerieren, wenn Kinder in unserer Stadt mit dem Schimpfwort Zigeuner diskriminiert werden. Im Gegenteil: Immer noch landen viel zu viele Kinder aus Roma-Familien auf Sonderschulen. Zum Schutz dieser Kinder sind größere Anstrengungen notwendig.
2. Diskriminierung im Job mit Staatsanwaltschaft und Beratung bekämpfen
Je mehr in Berlin gebaut wird, desto wichtiger ist dieses Thema. Gerade Roma aus Südost-Europa werden systematisch für Jobs auf dem Bau angeworben und geraten in Berlin in ein System von Ausbeutung durch Arbeitgeber, Vermieter und dubiose „Helfer“. Hier sind Antiziganismus und organisierte Kriminalität eng miteinander verwoben. Gegen diese Ausbeutung von Sinti und Roma hilft nur eine enge Zusammenarbeit von Polizei, Sozialarbeit und Selbstorganisationen. Sie ist notwendig, damit die Verantwortlichen und Profteure dieser kriminellen Machenschaften identifziert und sanktioniert werden. Wir fordern deshalb eine eigene Staatsanwaltschaft für das Thema Menschenhandel und Ausbeutung in der Arbeit. Damit würden das Wissen über Tatbestände und Strukturen gebündelt. Bisher wird viel zu oft der Tatbestand, dass die Arbeiter betrogen werden, übersehen und in Richtung Schwarzarbeit ermittelt, auch wenn keine Verträge abgeschlossen und keine Löhne gezahlt wurden. Auch bei EU-Bürgern ist die auslandsspezifsche Hilfosigkeit anzunehmen. Wir wollen außerdem, dass Informationen über die Beratungsstellen gegen Ausbeutung auf allen Baustellen und in mehreren Sprachen im Eingangsbereich offen zugänglich sein müssen. Solche Informationsangebote haben sich in NRW und Hamburg bewährt.
3. Diskriminierung beim Wohnen: Wohnungsaufsichtsgesetzes überarbeiten
Die Bezirke Neukölln, Mitte, Reinickendorf, aber auch Tempelhof-Schöneberg kämpfen seit Jahren mit dem Problem der sog. Schrottimmobilien. Hierbei wird oft unbewohnbarer Wohnraum in krimineller Art und Weise vermietet. Typische Merkmale sind: zu überhöhten Preisen, ohne Heizung, ohne warmes Wasser, Müll, oft verbunden mit Überbelegung. Soziale Probleme und die illegale Räumungen ganzer Familien stellen die Bezirke vor große Probleme. Auf Grundlage der bestehenden Gesetze sind diese kaum zu lösen. Roma sind von diesem Problem besonders oft betroffen. Zum Teil werden sie zum Arbeiten nach Berlin geholt und erhalten in den Problemimmobilien einen überteuerten Schlafplatz. Zum anderen Teil lassen sie sich auf diese schrecklichen Wohnverhältnisse ein, da ihnen aufgrund von massiver Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt oft keine anderen Wohnmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Bewohnerinnen und Bewohner, ihre Nachbarschaft und Bezirke als politisch Verantwortliche sind die Leidtragenden dieser Machenschaften, während kriminelle Vermieter mit diesem illegalen Geschäftsmodell hohe Gewinne erzielen. Eine Überarbeitung des Wohnungsaufsichtsgesetzes, wie sie im im Koalitions-Vertrag vereinbart ist, ist daher dringend geboten. NRW und Hamburg sind hier vorbildhaft: NRW hatte eine Enquete-Kommission zum Thema Schrottimmobilien zur Vorbereitung der Gesetzesänderung. Hamburg wendet das novellierte Gesetz bereits an und hat betroffene Gebäude enteignet. In Berlin wurde bisher lediglich eine senatsinterne Arbeitsgruppe wiederbelebt, die schon in der letzten Legislatur keine Ergebnisse gebracht hatte. Wir hoffen auf schnelle Fortschritte bei der Überarbeitung des Wohnungsaufsichtsgesetzes. Ein Fortschritt ist die Stelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, die 2016 vom Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Dirk Behrendt, eingerichtet wurde. Wir fordern aber darüber hinaus, dass die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften sich dem Thema öffnen und Roma-Familien – insbesondere aus Schrottimmobilien – angemessenen Wohnraum vermieten.
4. Auf allen Ebenen: Angebote öffnen, Beschäftigte sensibilisieren Antidiskriminierungsgesetz einführen.
Sämtliche Beratungsangebote in unserer Stadt müssen auch auf Arbeitnehmer und Familien aus Südost-Europa vorbereitet sein. Das Betrifft Beratungsstellen für Mieter oder für die Themen Gesundheit, Bildung und Schulsozialarbeit. Dabei geht es um sprachliche, rechtliche und personelle Aspekte. Auch Beschäftigte in Behörden müssen für Antiziganismus besser sensibilisiert und ermutigt werden, aktiv dagegen anzugehen. Aktuell erarbeitet der Senat unter Federführung von Justizsenator Dirk Behrendt ein Landes-Antidiskriminierungsgesetz (LADG). Dieses Gesetz soll Berlin beim Kampf gegen Diskriminierung einen großen Schritt voran bringen – auch beim Kampf gegen Antiziganismus. Derzeit befindet sich der Entwurf in der Abstimmung mit der Zivilgesellschaft.
5. Selbstrepräsentation: Rahmenvertrag oder Beirat notwendig
Mit dem Aktionsplan zur Einbeziehung ausländischer Roma gibt es in Berlin einige Beratungs- und Fördermaßnahmen. Das Problem ist: Die Zielgruppe wird bei der Planung der Angebote nicht beteiligt. Die Folge: Viele Maßnahmen passen nicht optimal zur Zielgruppe. Das ist nicht nur ein Manko in Bezug auf die Qualitätssicherung und die Bekämpfung von Filz, wie die Antwort auf die schriftliche Anfrage Phinove und die Nostels – wie läuft es und was gibt es Neues? zeigt. Es ist vor allem ein politisches Manko in Bezug auf Mitbestimmung und Partizipation. Die Koalition hat unter dem Stichwort „Rahmenvertrag“ vereinbart, eine hoch angesiedelte Vertretung der Roma zu etablieren. Die Selbst-Organisationen sollen den „Roma-Aktionsplan“ mit steuern können. Dazu laufen derzeit intensive Gespräche , die gut vorankommen. Berlin wäre damit Vorreiterin in der Partizipation von Roma und Sinti, da es in anderen Bundesländern bisher lediglich Verträge mit der nationalen Minderheit gibt, die mithin die europäische Dimension und die Probleme der Zuwanderung überhaupt nicht berühren.