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Rede von Werner Graf zur Wahlwiederholung in Berlin

Werner Graf steht auf den Dächern Berlins, im Hintergrund sieht man den Fernsehturm. Er trägt ein hellblaues Jackett und steht sehr stabil da. Er schaut entschlossen. Foto: Vincent Villwock/Grüne Fraktion Berlin

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Berlinerinnen und Berliner,

diese Debatte heute hier in diesem hohen Haus ist ein trauriger Tag für die Demokratie. Ich wünschte mir, ich müsste diese Rede heute hier nicht halten. Denn wir müssen leider klipp und klar feststellen: Es ist beschämend, dass Berlin nun die komplette Wahl wiederholen muss. Es ist beschämend, dass Berlin nicht in der Lage war, ordnungsgemäß eine Wahl zu organisieren – das höchste Gut einer Demokratie. Es ist beschämend, dass Berlin wieder seinem Ruf gerecht wird, nicht zu funktionieren und das uns auch noch zig Millionen kosten wird.

Daher ist es angebracht, dass sich diese Regierung dafür bei den Menschen in dieser Stadt entschuldigt. Diese Wahlwiederholung ist der „Worst Case“ für die gesamte Berliner Politik. Aber weder vom Wünschen noch von einer Entschuldigung können sich die Berliner*innen etwas kaufen. Dieses Urteil von gestern, diese Klatsche an die Berliner Politik muss Folgen haben. Ein einfaches Weiterwurschteln, ein Schönreden darf es nicht geben. Wir sind es den Berliner*innen schuldig, echte Konsequenzen daraus zu ziehen.

Es muss endlich Schluss damit sein, dass wir in Berlin immer mit dem Finger auf andere zeigen, und die Verantwortung nur spüren, aber nicht annehmen. Es muss Schluss sein damit, dass wir uns hinter einer Aufsichtspflicht verstecken und das Land den Bezirken die Schuld gibt und manche Bezirke unwillig sind, mit dem Land zu kooperieren. PingPong darf es nur noch beim Tischtennis geben!

Wir Grüne sind nun seit sechs Jahren Teil der Regierung. Ich selbst habe und hatte das Privileg, dies in verschiedenen Rollen mitgestalten zu dürfen, sei es als Landesvorsitzender, sei es jetzt als Fraktionsvorsitzender. Und ich finde, dass es nun ein guter Zeitpunkt ist, einmal eine Bilanz zu ziehen. Und ja, wir haben vieles in dieser Regierungskonstellation erreicht:

  • Wir haben das Personal in den Bürgerämtern sowie bei der Polizei deutlich aufgestockt.
  • Wir bringen die Verkehrswende auf die Straßen Berlins und zeigen mit dem 29-Euro-Übergangsticket, dass wir als einziges Bundesland in der Lage waren, schnell und unbürokratisch über die Maßnahmen des Bundes hinaus die Berliner*innen zu entlasten.
  • Das haben wir auch damals schon bei Corona geschafft, als Berlin es war, das als erstes und am schnellsten den Solo-Selbständigen geholfen hat.
  • Und auch bei den Geflüchteten haben wir immer gezeigt, dass wir den Menschen in Not schnell und unbürokratisch helfen.

Ich bin fest überzeugt: Eine Koalition aus diesen drei Farben tut Berlin gut. Aber neben der positiven Bilanz, müssen wir gerade an einem Tag wie heute die Größe und den Mut haben, die Missstände zu benennen und sie dann endlich auch einmal strukturell angehen.

Heute morgen konnte ich online keinen Termin in einem Bürgeramt buchen. Öffentliche Gebäude wie Rathäuser und Dienstgebäude für Feuerwehr und Polizei, die fast auseinander fallen, der BER, ein andauernder Lehrer*innen-Mangel und jetzt noch diese vergeigten Wahlen. Und das ist noch lange nicht alles! Das alles sind nicht einzelne, nicht funktionierende Ereignisse. Sachen, die halt mal schief gelaufen sind. Nein, das hier in Berlin hat System.

War es denn wirklich so unvorhersehbar, dass ein Marathon und eine Wahl am selben Tag zu Problemen führen kann? Wie konnte es passieren, dass die Wahllokale zu wenig Stimmzettel hatten? Warum waren da teilweise die falschen Stimmzettel, warum fiel das erst am Wahltag auf und warum konnte eine 17-Jährige für den Volksentscheid abstimmen? Wer hat das organisiert? Wer hatte da die Fäden in der Hand? Und wieso hören wir von allen immer nur, dass der andere Schuld war. Dass man nur die Aufsicht hatte.

Es muss in Berlin endlich Schluss damit sein, dass sich hinter Aufsichtspflicht, hinter unklaren Zuständigkeiten, hinter Verwaltungen versteckt wird. Berlin ist in seiner Verfasstheit zu komplex. Berlin verheddert sich selbst immer wieder in seiner eigenen Bürokratie! Berlin funktioniert nicht, wie es soll. Es muss Schluss sein mit dieser kollektiven Verantwortungs­losigkeit! Wir brauchen den Mut für ein Update Berlins.

Denn es sind nicht die Menschen in der Verwaltung, die nicht gut arbeiten. Es sind auch nicht nur einfach zu wenige von ihnen. Die Missstände Berlins lassen sich nicht einfach mit “mehr Personal” lösen.

Und übrigens lassen sich die Missstände auch nicht einfach mit dem Schlagwort Digitali­sierung lösen, liebe FDP. Denn ein schlechter analoger Ablauf ist auch digital ein schlechter Ablauf. Nein, wir müssen an die Arbeitsprozesse ran. Wir müssen Berlin endlich wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Und dafür gibt es fünf Leitlinien, an denen wir uns orientieren sollten:

Erstens: Wir brauchen eine klare Aufgabenverteilung und Transparenz über diese Aufgaben­verteilung, statt Bürokratie und Unzuständigkeiten. Oft ist in Berlin überhaupt nicht klar, wer wann wofür zuständig ist. Man fühlt sich wie Asterix und Obelix auf der Suche nach dem Passierschein A38.

Um diese Verantwortlichkeiten eindeutig zu klären, sind die folgenden drei Fragen zentral:

  • Liegt diese Aufgabe auf Landes- oder auf Bezirksebene?
  • Sind es staatliche Aufgaben, die das Gesetz vorschreibt oder sind es gemeindliche Aufgaben, die wir im Sinne unserer Kommunalpolitik übernehmen?
  • Geht es bei dem Thema um Steuerungsaufgaben oder um operative Aufgaben?
    gabenarten, nach denen wir klären und strukturieren können.

Wenn wir alle Aufgaben, die in Berlin anfallen, nach diesen drei Fragen bewerten, können alle Aufgaben Berlins in sechs verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Mit klaren Zuständigkeiten und einer klaren Verantwortung. Wenn wir dann noch davon ausgehen, dass es Querschnittsaufgaben gibt, die überall anfallen, haben wir insgesamt sieben Aufgaben, nach denen wir klären und strukturieren können.

Das mag erst einmal technisch klingen. Und ja, ich weiß, Verwaltungsmodernisierung ist jetzt nicht nur sexy. Aber gerade diese klare Aufgabentrennung führt zu Transparenz und ist der beste Anti-Bürokratie-Booster, den wir anschmeißen können.

Zweitens: Wir müssen den Mut haben, loszulassen. Wir müssen den Mut haben, Macht, Verantwortung und Gestaltungsentscheidungen komplett abzugeben und dafür im Gegenzug Gesamtverantwortung bei den Aufgaben bekommen, die wir ausfüllen müssen und dürfen. Oder lassen Sie es mich anders sagen: Haben wir den Mut, Aufgaben entweder ganz bei den Bezirken oder ganz im Land anzusiedeln.

Und wir müssen weg von der Losung: Nur Zentralisierung löst alle unsere Probleme. Es gibt vieles, bei dem die Bezirke besser wissen, was gut vor Ort ist: Wie ein Kiez entwickelt wird, wo Spielplätze gut sind und wo mehr Bänke und Bäume Sinn machen. All das wissen die Verantwortlichen vor Ort viel besser als wir. Hören wir auf, von Landesebene ständig mit hineinreden zu wollen, was gut für sie ist. Aber lassen Sie uns im Gegenzug dafür Aufgaben ganz auf Landesebene verorten, wenn es dort Sinn macht.

Die Kältehilfe ist ein gutes Beispiel: Statt dem Ping-Pong zwischen der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales mit den zwölf Bezirken um die Frage, ab wann wie Unter­künfte angemeldet werden können und müssen, um dann sogar ins Dreieckspiel mit der Senatsverwaltung für Finanzen zu gehen, damit am Ende wirklich keine Zeit bleibt, schnell Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, sollten wir diese Aufgabe einem Landesamt geben, das für die ganze Stadt die Kältehilfe zentral organisiert und steuert. Und das ganz automatisch, jedes Jahr aufs Neue.

Drittens: Wir müssen auch die Digitalisierung voranbringen. Natürlich müssen wir die Prozesse besser und transparenter machen. Natürlich ist ein schlechter analoger Prozess auch digital immer noch ein schlechter Prozess. Aber um wirklich die Bürgerämter zu entlasten, müssen wir auch endlich das digitale Bürgeramt Wirklichkeit werden lassen. Ein Wohnungsumzug; der Projektstand der verschiedensten Bauvorhaben – all das und noch viel mehr muss doch digital möglich sein. All das müssen wir digital möglich machen.

Viertens: Wir brauchen viel mehr dynamisches und projektorientiertes Arbeiten. Die meisten Mitarbeiter*innen in der Verwaltung sind heute schon weiter als die Strukturen es zulassen. Sprengen wir dieses enge Korsett, sprengen wir das versäulte Denken und fangen an, in Politikfeldern, in Projekten, in Zielen zu denken und zu arbeiten.

Und Fünftens: Verankern wir die gesamtstädtische Steuerung endlich in unserer Verfassung. Das heißt, dass wir – wo Zielvereinbarungen zwischen Land und Bezirken geschlossen wurden – die Fachaufsicht wieder einführen. Das heißt, dass wir die Bezirke endlich auch politisieren und das politische Bezirksamt einführen, damit auch im Bezirk mit einer klaren politischen Linie regiert werden kann.

Jede dieser fünf Leitlinien geht für sich alleine. Jede dieser fünf Leitlinien muss nun endlich in einem klaren und mutigen Prozess angegangen werden. Warum ich das betone? Weil ich klar machen will, dass wir uns nicht länger hinter einer möglichen Verfassungsänderung verstecken dürfen. Diese wäre gut und richtig.

Aber eine klare Aufgabenzuteilung, wirkliche Transparenz geht auch ohne Verfassungs­änderung. Das Abgeben von Macht auf eine Ebene – Land oder Bezirk –geht auch ohne Verfassungsänderung. Die Digitalisierung des Bürgeramtes geht auch ohne Verfassungs­änderung.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich weiß, Diskussionen über die Verfasstheit Berlins sind nicht sexy. Das ist schwere Kost mit drögen Themen und komplizierten Antworten. Deshalb auch einmal Danke, dass Sie mir bis hierhin gefolgt sind.

Aber ich finde, diese Wiederholungswahl muss für uns nun der letzte Warnschuss gewesen sein, endlich die Probleme der Stadt, die Probleme dieser falschen Verfasstheit anzugehen. Wir dürfen nicht bei Momper oder Diepgen stehen bleiben. Berlin braucht ein Update in dieses Jahrtausend. Es braucht ein Update, weil wir dafür Verantwortung tragen, dass so etwas wie dieses Wahl-Desaster nie wieder vorkommen darf. Es braucht ein Update, weil Berlin als polyzentrische Stadt es verdient hat, zu funktionieren. Es braucht ein Update, weil die Herausforderungen in nächster Zeit eher größer als kleiner werden.

Ich habe ja nun schon die verschiedensten Beschreibungen für die aktuelle Zeit gehört: Multiple Krisen, Polykrise, Stapelkrisen. Fragen Sie mich nicht, wo da der Unterschied ist. Ich glaube eher, dass wir die Krise als eine Art neuer Normalzustand für die nächsten Jahre akzeptieren müssen. Die Klimakatastrophe wird uns noch Jahrzehnte lang herausfordern, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit folgende Inflation und Energiekrise wird nicht einfach nächstes Jahr weg sein. Die schwindende Kaufkraft wird uns alle sehr treffen: Denn noch haben wir die Effekte der Mehreinnahmen im Staatshaushalt, doch die Geschichte der Inflation und Deflation zeigt uns, dass dies nur kurzfristig, nur meist im ersten Jahr wirklich mehr Geld bedeutet. Und auf die Corona-Pandemie mögen wir vielleicht alle keine Lust mehr haben, verschwunden ist sie deswegen noch lange nicht.

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind riesig. Und sie werden Jahre andauern. Um so wichtiger ist es, dass Berlin funktioniert. Dass die Zahnräder Berlins wieder ineinander greifen und rund laufen. Denn nur so bringen wir auch die bitter nötigen sozialökologischen Transformationsmaßnahmen noch schneller auf die Straße.

Wenn das Land sich um die Hauptstraßen und die Bezirke sich um die Nebenstraßen kümmern, und sie sich dabei nicht mehr im Weg stehen, sind auch die Umsetzungen schneller und einfach möglich. Wenn wir mit der Digitalisierung vorankommen, können wir auch Hilfen wie das Wohngeld schneller ausweiten und den Härtefallfond schneller umsetzen. Wenn wir die Aufgaben klar zuordnen, dann wissen auch die Vertreter*innen der Vereine, der Verbände und der Interessengruppen viel eher und einfacher, an wen sie sich für welche Hilfe wenden müssen.

Gerade in Zeiten großer ökologischer und großer sozialer Herausforderungen ist eine funktionierende Stadt elementar, um gut durch die Krisen zu kommen.

Sehr geehrter Damen und Herren, verantwortungsvoll zu handeln heißt eben auch, Verantwortung zu übernehmen. Und ich erwarte, dass wir dies nun tun. Ein Verstecken hinter der Aufsichtspflicht. Ein Verstecken hinter dem Schönreden einzelner Erfolge. Ein Verstecken hinter Ausflüchten wie den zu hohen Hürden einer Verfassungsänderung darf es nun nicht mehr geben.

Deshalb müssen wir die Menschen bis zum zwölften Februar gut durch den Krisenwinter bringen. Aber deshalb müssen wir auch nach der Wiederholungswahl endlich das Update für Berlin angehen.

Kontrast
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